Donnerstag, 1. Juli 2010

Vom Tod zum Leben


Burkhardt stand unter einer graustämmigen Buche. Seine Augen irrten leer und ausdruckslos über das feuchte und leicht faulig riechende Laub, hinüber zu der schmutzigen giftgrünen Flasche und dem zerknüllten, durchweichten Zeitungspapier, das unter einem Strauch lag. Dann sah er auf und sah das Dunkel der ihn umgebenden Bäume, satt vom Regen der vergangenen Woche und den Himmel durch die Zweige hindurch wie trübes, schmutziges Aufwaschwasser. Und da fühlte er die Qual eines zerbrochenen Traumes. Er hatte Kopfschmerzen bekommen.
Es war alles so anders als er es sich vorgestellt hatte.
Nichts war von den Verheißungen der lockenden Frühmorgenssonne geblieben, die ihn hinausgezogen hatte mit Bildern von lichtdurchschienenen grünen, gelben und blauen, etwas verschwommenen Punkten, wie man sie auf Farbaufnahmen sieht, die einen unscharfen grünen Hintergrund mit etwas Himmel haben und mit der Erinnerung an eine einsame, schwerzugängliche Lichtung, die durch umgerissene Bäume und Niederholz wie von einer Mauer umgeben war, in der hohes Riedgras wuchs, und in der man Lust bekam, sich auszuziehen und an eine gefallene Birke gelehnt oder im Gras liegend die Wärme und den einzigartigen Geruch des Waldes einzuatmen, die Schmetterlinge bei ihrem lautlosen Spiel zu beobachten, zu lesen oder einfach nur stille und nichts willentlich denkend offen sein für Wirkungen von "außen".
Statt dessen war die Sonne hinter eine große graue Decke geschlüpft und hielt Burkhardt zum Narren.
Unmerklich war der aufsteigende Dunst in sich zurückgesunken und schwelte am Boden entlang.
Was sollte er noch länger hierbleiben! Es war sinnlos zu warten, daß die Sonne wieder raus kam und es machte keinen Spaß, ohne sie durch den Wald zu gehen. Als er dies dachte, bemerkte er den Widerstand einer Erkenntnis, die ihm sagte, daß er bleiben solle, wenn er lernen will, als Mensch über die Natur, über seine eigene Natur zu herrschen.
Es kam ihm in den Sinn, daß die Verknüpfung en von sonniger Wald - "gut und schön", und dunkler nasser Wald - "schlecht", Lüge waren. Alles war schön und gut, wenn man selbst die rechte Einstellung dazu hatte. Es war das gleiche, wie wenn einer klassische Musik liebte und ein anderer ihr nicht mal fünf Minuten lang zuhören konnte. Und er, Burkhardt war nun der letztere von beiden. Was war nun klassische Musik, und was war der Wald wirklich?
Sie waren sich selbst genug und riefen je nach gespeichertem Programm des "Datenempfängers Mensch" eine ablehnende oder annehmende Reaktion aus.
Konnte denn der Mensch nicht denken, sollte es nicht möglich sein, das eigene Programm ständig zu ändern? Es mußte möglich sein, und Burkhardt beschloß, sich über seine Enttäuschung, dass er keinen sonnigen Wald gefunden hatte, hinweg zu freuen.
Er ging und sah eine ganze Weile einer Amsel zu, die wenige Schritte von ihm entfernt im Laub scharrte und versuchte, zu lächeln und froh zu sein und Freude in sich zu spüren. Doch seine Anstrengungen verstärkten die Kopfschmerzen und die leise Schwermut nur noch mehr.
Er fand keine Beziehung zu diesem Wald. Das negative Vorzeichen blieb, obgleich das Positive des Waldes durchaus existent war, aber es existierte außerhalb von ihm und rief in seinem Herzen keinen Widerhall hervor. Das muß der Tod sein, dachte er. So muß man ihn empfinden: Um einen herum das Leben, doch man selbst war davon isoliert, die Lebenssäfte hatten keinen Zutritt zu einem und was dann übrig blieb, war eben Qual. Gab es denn Erlösung aus dem Tod? - Nein.
So bleibt dir also nichts anderes zu tun, als auf der Schattenseite des Todes zu bleiben und dich damit zufrieden zu geben. Er ging jetzt auf einem Nadelteppich, streifte die dürren Ästchen von Fichten, hörte Stimmen, die seinen Willen anstachelten, gegen seinen jetzigen Zustand des Schmerzes aufzubegehren, doch er blieb fest: Nicht zu kämpfen, da er sich doch nicht befreien konnte , Das bedeutete, sich in das, was man allge meinhin als "Schicksal" bezeichnete, zu ergeben und als er dies wirklich tat, spürte er plötzlich, wie alles Schwere und Dunkle von ihm wich, wie die Kopfschmerzen wie weggeweht wahren. Er sah jetzt den Wald mit ganz anderen Augen an, mit einem Herzen, das ins Leben zurückgekehrt war und das Liebe und Freude empfand.
Er blieb stehen, und sah zu, wie die Vögel von Zweig zu Zweig hüpften, er sah Regentropfen wie silbrige Perlen im Moos blitzen, und er konnte nicht widerstehen, sich mit seinen Jeans in dieses Moos zu setzen und ein Stückchen aus der Erde zu reißen. Es war irgendein besonderes Moos und sah aus wie eine Anhäufung von Palmen en miniature. Wie war alles so schön und vielgestaltig! Es war wunderbar und Burkhardt war glücklich.
Nichts war schlecht oder gut, wenn man auf der Seite des Lebens stand. Da gab es nur Vielfältigkeit . Nur auf der Seite des Todes hatte man gute und schlechte Gefühle und teilte, die ganze Welt in gut und schlecht auf.
Dann begann er da rüber nachzudenken, wie diese Veränderung mit ihm geschehen konnte, wie es möglich war, daß er von der trüben, zerstörerischen Stimmung erlöst und augenblicklich in eine unzerstörbare heitere Ruhe der Glückseligkeit versetzt wurde. Er sah klar, daß der Grund für seinen Mißmut die enttäuschten Hoffnungen und Wünsche waren und es kam ihm wieder die Zeit zu Bewußtsein, wo er tiefgehende Wünsche hatte, die sich nicht erfüllten und wie seelisch krank er da von geworden war.
Er erinnerte sich, daß es ihm nicht gelang, einen Beruf zu ergreifen, der ihm Freude machte. Er erinnerte sich, wie sehr er ein Mädchen geliebt hatte und wie sie seine Liebe nicht erwiderte. Und er dachte daran, wie er einen internationalen Korrespondenzklub einschließlich einer vielsprachigen Klubzeitung gründen wollte, und wie er keine Genehmigung dazu erhielt.
Es war dies eine harte Zeit gewesen. Doch in ihr hatte er gelernt, daß unerfüllte Wünsche immer Leid nach sich ziehen und daß man dort, wo man die Umstände nicht ändern konnte, einfach nur seine Einstellung zu ändern brauchte .
Burkhardt ging leicht und unbeschwert zu seinem Moped, das er am Waldrand abgestellt hatte .
Er sah, wie eine Frau den Weg entlangkam und wie zwei kleine Mädchen vornweg hopsten und wie ihre Pferdeschwänze lustig im Takt wippten.
Als die Frau bei ihm war, fragte sie "Entschuldigen Sie, geht es hier nach Birnsbach?" Sie lächelte freundlich und er spürte, dass er sie liebte, genau wie er ihre Kinder liebte, die ihn nun auch umstanden, und wie er alle Menschen geliebt hätte, die ihm jetzt begegnet wären.
Er sagte ihr die Richtung, sie bedankte sich, dann setzte er sich auf sein Moped und fuhr davon, Eins mit sich und Eins mit der ganzen Welt.
Und nun ahnte er auch etwas davon, daß der Mensch im Grunde nichts zum Leben benötigte. Man konnte ganz genügsam und doch glücklich sein. Es war lediglich eine Sache des Denkens. (DDR, 1972)




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